Mein(e) Sierra Leone Marathon(s)
1 .Mai 2024: mitten in der Nacht komme ich in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, an. Im zweiten Anlauf…
Seit Januar 2023 bin ich im Vorstand von SCDE (Street Child Deutschland), sehe Projektanträge, Berichte und Gelder ein- und ausgehen, und da lag es nahe, dass ich mir ein persönliches Bild von der Arbeit von SC vor Ort machen wollte. Was bietet sich besser an als der jährliche Sierra Leone Marathon, der nach Corona Anfang Mai 2023 erstmals wieder stattfand? Erst ein paar Tage „Infotainment“ zur gemeinnützigen Arbeit von SC, dann der Marathon Event (bei dem auch kürzere Strecken im Angebot sind, so dass ich 5km anpeilen konnte). Danach wahlweise Heimreise, 1-2 Tage am Meer oder wie in meinem Fall Weiterreise nach Liberia zum Besuch von SCDE Projekten. Das war der Plan. Nach Ankunft in Freetown folgte am nächsten Tag ein interessanter Schulbesuch mit zwei SCDE Spendern, aber am Folgetag bin ich unglücklich ausgerutscht – und habe mir den Fuß mehrfach gebrochen. Medizinisch vor Ort in Makeni gut mit dem Notwendigsten versorgt ging es einen Tag später mit Jeep, Flugzeug und Auto auf schnellstem Weg in die Unfallstation eines heimatlichen Krankenhauses. Eigentlich hatte ich mehr von der Arbeit von SC in Sierra Leone sehen wollen…
Also zweiter Anlauf im April/Mai 2024. Wieder ging es nach Makeni, ca. drei Stunden Fahrt von Freetown an der Küste durch die grün-braune Landschaft von Sierra Leone auf einer der Hauptstraßen ins Inland, zusammen mit vielen Charity-Läufern und auch Fahrradfahrern, denn 2024 war neben dem Lauf auch ein Bike-Ride oder ein Duathlon im Angebot. Aus Deutschland waren wir zu fünft, viele Engländer waren dabei, aber auch diverse andere Länder vertreten. Dörfer mit Gemeinschaftsbrunnen in der Mitte haben wir passiert, angefangene Bauten, flache Schulgebäude, Mango-Verkauf am Straßenrand. Viele Motorräder und einige Autos, aber alle Fahrzeuge fast immer unvorstellbar voll beladen – genauso wie die Köpfe der Menschen, denn vor allem die Frauen transportieren Eimer und Körbe mit Wasser, Obst, Geschirr und sonstigen Sachen immer auf dem Kopf.
Makeni hat ca. 80.000 Einwohner und ist vor allem bunt und laut. Ob auf dem Markt, an den Verkaufsläden und -ständen am Straßenrand oder an der Tankstelle: überall Gewusel und Trubel. Unsere Gruppe war auf drei Hotels von einfach bis komfortabel verteilt, aber unser gemeinsamer Anlaufpunkt war abends das Street Child Clubhouse. Hier gab es Informationen vom Orga-Team, zuverlässigen Geldwechsel, Auflademöglichkeiten für die Sim-Karten, Abendessen, viele Kontakte und interessante Gespräche und nicht zuletzt das lokale „Star“-Bier.
Schule besucht. Meine Gruppe war mit drei Jeeps unterwegs ins etwa zwei Stunden entfernte Kagbasia, und nach dem letzten Teil über rumpelige Sandwege war mir klar, was SC mit „remote“ bzw. “in entlegenen Gegenden“ meint. In Begleitung eines SCoSL(Street Child of Sierra Leone) Managers und des zuständigen SCoSL-Sozialarbeiters wurden wir herzlich von der jungen kompetenten Schulleiterin empfangen. Zugeschaut haben wir beim Unterricht, der für 6 Stufen in 3 Räumen stattfindet. Die von SC geschulten Lehrer unterrichten nicht nach Alter, sondern nach dem Prinzip des „Teaching at the right level“ (TARL) nach Vorwissen der 136 Kinder. Und das nicht nur frontal, sondern auch spielerisch und in Gruppenarbeiten. Beeindruckt haben mich auch die Tanz- und Akrobatikvorführungen von Kindern und Lehrern, aber vor allem das Engagement der Schulleiterin und ihrer Kollegen.
Da der Anerkennungsprozess der Schule durch die Behörden noch andauert, gibt es bisher keine regelmäßige Vergütung. Unterstützt wird das Team durch die Familien und die Dorfgemeinschaft. Daher spielt auch der bewirtschaftete Schulgarten mit seinen Erträgen eine wichtige Rolle, der neben dem Schulgebäude und den Sanitäreinrichtungen angelegt wurde. Die Schule gehört zum Hauptdorf einer Community, die aus 26 Dörfern besteht. Muslime und Christen leben hier nebeneinander. Das Dorf verfügt über eine zentrale Gesundheitsstation, die uns die Nurse gerne gezeigt hat, und zu Ehren unseres Besuches wurde eine Dorfversammlung abgehalten. Es war inspirierend zu sehen, mit wie viel Leidenschaft sich die zuständigen SCoSL-Kollegen sowie die Schulleiterin und ihre Kollegen sich für den Schulbesuch der Kinder einsetzen, allen Hindernissen zum Trotz, seien es geographische, familiäre oder wirtschaftliche Verhältnisse.
In den folgenden Tagen haben wir uns viel im Street Child Compound aufgehalten. Tom Dannatt, der Gründer von SC, und Kelfa Kargbo, der Country Director von SCoSL, haben uns mitgenommen in die Anfänge der Organisation und deren Entwicklung über die letzten 15 Jahre.
Das Team von SCoSL hat uns in verschiedenen Workshops informiert über übergeordnete Programme wie EFECT („Education for Every Child Today“) und Projekte, in deren Rahmen die konkrete Arbeit erfolgt. Wichtig ist der Bereich Infrastructure/Construction zum Bau und Erhalt von Schulen ebenso wie die Ausbildung der Lehrer einschließlich deren Zertifizierung. Aber es gilt auch, die „richtigen“ Gemeinden und Kinder auszuwählen, die anderweitig nicht erreicht werden und bei denen die Wirkung der SC-Maßnahmen am vielversprechendsten ist. Ein wesentlicher Bestandteil ist zudem das Family Business Scheme Programm: zumeist Frauen werden für den Beginn eines kleinen Handels- oder Handwerksgeschäfts mit einer Anschubfinanzierung und persönlicher Hilfestellung unterstützt, damit die Familie es sich wirtschaftlich leisten kann, die Kinder zur Schule zu schicken. Auf Basis der bisherigen Erfahrungen werden diese Ansätze zur Familienunterstützung kontinuierlich weiterentwickelt.
Kelfa - Kerstin - Tom
Beeindruckend war auch das Fußballspiel der „Wusum Stars“ gegen die „Mena Stars“, das wir am Vorabend des Marathontages gesehen haben: alle Feldspieler einbeinig mit Krücken, beide Torwarte einarmig. Was für ein Einsatz und Tempo im Spiel (die Wusum Stars haben übrigens im Shoot-Out gewonnen)!
Race Day: noch im Dunkeln ging es frühmorgens zum Stadion, wo der Start war. Erst Marathon und Halbmarathon, dann 10km und schließlich 5km, dazwischen noch die Radfahrer. Unsere internationale Gruppe machte nur einen kleinen Teil der Läufer aus, denn der SLM ist auch ein riesiger (und vom SC-Orga-Team super organisierter) lokaler Event. Auch die Fußballer vom Vortag waren dabei! Mein Fuß und ich haben uns auf 5km Walken geeinigt. Es ging für mich daher vor allem auf Sandwegen durch die Randbezirke von Makeni. Überall wurde geguckt, gelacht, geklatscht, und Kinder streckten uns die Hände entgegen. Beim Zieleinlauf ins Stadion wurden alle Läufer entsprechend bejubelt. Hochachtung für alle, die sich in der Hitze durch die längeren Strecken gekämpft haben (und es waren einige, die nicht zum ersten Mal dabei waren!). Ich habe am Nachmittag und Abend in viele geschaffte, aber glückliche Gesichter geblickt: es war ein sehr besonderer Event!
Der Start...
Das Ende!
Die Tage in Makeni waren extrem intensiv. Ich war froh, dass ich zum Abschluss noch eine Nacht in einem ruhigen Strandresort mitgebucht hatte, wo ich die Erlebnisse und Begegnungen am Meer und bei einem gemütlichen Lagerfeuerabend in der Gruppe nachwirken lassen konnte, bevor es wieder zurück ging – wieder deutlich „geerdet“ in meine normale, ganz andere Realität.
Ich habe in Sierra Leone vor Ort gesehen, wie nachhaltig die Arbeit von SC ist. Durch den direkten Kontakt mit den Menschen und den Projekten habe ich ein tieferes Verständnis für die lokalen Herausforderungen gewonnen, aber auch für den Nutzen, den Street Child für die Kinder individuell und die Gemeinschaft insgesamt erbringt, wenn immer mehr Kinder eine gute Schule besuchen können.